Woher kommen wir

oder

Das Märchen von den Bienen

von Philipp Pulger


Es war einmal ein kleiner Prinz in einem fernen Land. Dieser kleine Prinz war ein neugieriger Prinz, er wollte alles wissen. So kam es nicht selten vor, dass er seinen Eltern, dem König und der Königin des fernen Landes, und ihren Mägden und Knechten stundenlang Löcher in den Bauch fragte.

Eines Tages hörte der kleine Prinz ganz zufällig, wie sich zwei Mägde über das Kinderkriegen unterhielten. Das hatte der kleine Prinz noch nie gehört, dass man Kinder kriegen kann. Das Gespräch der beiden Mägde hatte seine Neugierde geweckt. So kam es, dass er schließlich seine Mutter fragte, wie das denn ginge, das mit dem Kinderkriegen. Seine Mutter antwortete ihm folgendes: "Meine kleiner Prinz, um dir alles zu erzählen, was es damit auf sich hat, bist du noch zu jung. Deshalb möchte ich dir diese Sache an einem Beispiel erklären. Sieh mal die Bäume. In gewisser Weise kriegen die Bäume auch Kinder. Wenn ein neuer kleiner Baum wächst, dann haben zwei größere Bäume ein Kind gekriegt." - "Und wie soll das gehen?" fragte der kleine Prinz, "die Bäume können sich doch gar nicht bewegen." - "Die Bäume nicht, doch dafür haben sie kleine Helfer. Hör zu", antwortete seine Mutter, die Königin, und der kleine Prinz hörte aufmerksam zu. "Die Bäume haben Blüten, die die Bienen anlocken. Die Bienen essen von den Blüten und nehmen dafür den Blütenstaub zu einer anderen Blüte mit. Wenn sie dann zu einer anderen Blüte geflogen sind, geben sie dort den Blütenstaub wieder ab. Die Blüte nimmt den Blütenstaub auf und wächst zu einer Frucht. Wenn diese Frucht in die Erde fällt, wächst sie zu einem Baum." - "Und mit den Menschen ist das ganz ähnlich?" fragte der kleine Prinz. "Und mit den Menschen ist das ganz ähnlich", antwortete seine Mutter, die Königin, und lächelte. Und der kleine Prinz war erst einmal zufrieden.

Doch nach einer Weile begann der Prinz sich Gedanken zu machen, was denn bei den Menschen nicht ganz so ist wie bei den Bienen, wo denn der Unterschied läge. Und so war seine Neugierde erneut geweckt. Und weil er wusste, dass er von seiner Mutter noch keine andere Antwort bekommen würde, weil er noch zu jung war, und weil seine Neugierde doch so unersättlich war, suchte er die beiden Mägde, die er über das Kinderkriegen sprechen gehört hatte.

Er fand auch eine der beiden Mägde, als sie gerade dabei war, den Tisch für das Mittagessen herzurichten. "Du hast doch einmal über das Kinderkriegen gesprochen" sprach der kleine Prinz sie an, denn er war gar nicht schüchtern, "kannst du mir erzählen, wie das geht?" - "Im Moment habe ich sehr viel zu tun, aber frag mich doch nach dem Essen noch mal", antwortete ihm die Magd. Am liebsten hätte der kleine Prinz die Antwort natürlich sofort gewusst, jetzt musste er auf das Ende des Mittagessens warten. Während des Essens hatte der Prinz gar keinen rechten Appetit, weil er immerzu an die Antwort denken musste, die ihm die Magd geben würde. Schließlich war er sehr neugierig. Beinahe hätte er wegen seiner Appetitlosigkeit großen Ärger von seinem Vater, dem König, bekommen, doch seine Mutter, die Königin, konnte ihn gerade noch besänftigen.

Nach dem Essen lief der kleine Prinz voller Neugierde zu der Magd, die jetzt auch für ihn Zeit hatte. Während des Essens hatte sie sich überlegt, was sie denn dem kleinen Prinzen sagen sollte. Natürlich hätte sie dem unerfahrenen kleinen Jungen einen vom Pferd erzählen können, oder sogar, wie es wirklich war. Doch sie besann sich ihres höfischen Anstandes und erzählte dem kleinen Prinzen nichts anderes als die Geschichte von den Bienen. Der kleine Prinz war enttäuscht. Er hatte gehofft, etwas mehr zu erfahren. Und weil er immer noch sehr neugierig war, fing er an, alle Leute im Schloss nach dem Kinderkriegen zu fragen. Doch alle Leute im Schloss, die er fragte, besannen sich ihres höfischen Anstandes, und so hörte er außer der Geschichte mit den Bienen nur noch die Geschichte vom Storch, der die neugeborenen Kinder bringt, die er aber nicht so recht glauben konnte.

Weil der kleine Prinz aber so viele Leute im Schloss gefragt hatte, blieb es nicht aus, dass seine Eltern, der König und die Königin, schließlich von seiner Fragerei Wind bekamen. Sie waren sehr erbost über den kleinen Prinzen. "Deine Mutter hat dir doch alles was du in deinem Alter darüber wissen musst, schon erklärt. Dich damit nicht zufrieden zu geben, war sehr ungezogen", schimpfte sein Vater, der König. "Außerdem ist dies ein sehr unanständiges Thema, über das du als Königssohn nicht sprechen solltest. Zur Strafe darfst du in diesem Sommer nicht mehr ausreiten. Das soll dir eine Lehre sein." Und das war dem kleinen Prinzen eine Lehre. Er ritt doch so gerne und vermisste das Reiten in diesem Sommer sehr.

So kam es, dass der kleine Prinz zwar noch neugierig war, sich aber immer öfter auf seinen höfischen Anstand besann und zu unanständigen Themen keine Fragen mehr stellte. So wuchs der Prinz auf, als anständiger Nachfolger seines Vaters.

Schließlich kam die Zeit für den kleinen Prinzen, der jetzt schon ein junger Mann geworden war, zu heiraten. Er fand auch eine schöne Prinzessin, die zufällig auch die Tochter des Königs aus dem Nachbarland war. Er liebte sie sehr, denn sie liebte die gleichen Dinge wie er und war außerdem, wie er, von Grund aus anständig. Ihre Hochzeit war ein großes Ereignis und wurde ausgiebig gefeiert.

Es kam die Zeit, dass die beiden Könige zu alt wurden, um ihre beiden Länder zu regieren. Und so wurde der kleine Prinz, der jetzt schon ein reifer Mann war, König über die beiden Länder. Und seine Frau, die Prinzessin, wurde Königin. Und die beiden waren glücklich und zufrieden, hofften aber immer noch vergeblich darauf, Kinder zu kriegen. Sie hatten extra den Garten vergrößert, um noch mehr Bienen anzulocken, aber so recht wollte den König und die Königin keine von den Bienen bestäuben. Sie wussten, dass sie irgendetwas falsch machten, trauten sich aber wegen ihres höfischen Anstandes nicht zu fragen.

In den beiden Ländern brach große Trauer aus, dass der König und seine Königin immer noch keine Kinder hatten. Die Familien der beiden hatten die Länder nämlich immer gut regiert, und das Volk hatte Angst vor der Ungewissheit.

So lebten der König und seine Königin noch viele Jahre kinderlos, und ihre beiden Länder in Trauer. Und wenn sie nicht gestorben sind, so sind sie über ihre Kinderlosigkeit immer noch unglücklich und unzufrieden bis an ihr Lebensende.

© Philipp Pulger


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