Der Besuch des Königs

von Philipp Pulger


Eines Tages saßen zwei Männer auf einer Bank. Der eine hieß Mario und kam aus dem Dorf Hinterberg, das hieß so, weil es hinter einem Berg lag. Der andere Mann hieß Richard und kam aus dem Dorf Zwenwalden, das hieß so, weil es zwischen zwei Waldstücken lag. Beide waren im Dorf des anderen zu Besuch gewesen und jetzt auf dem Nachhauseweg. Sie machten eine Rast auf der Bank, die genau auf der Mitte des Weges zwischen den zwei Dörfern an einer Kreuzung lag. Die eine Straße verband die beiden Dörfer, die andere Straße führte zur Stadt in die eine Richtung, in der anderen Richtung lag die Grenze zum Nachbarland. Beide lagen mehrere Tagesritte entfernt von den beiden Dörfern.

Auf der Straße kam aus der Richtung der Stadt ein Mann auf einem Pferd. Er hielt an und zog zur Begrüßung seinen Hut. Mario und Richard nickten ihm freundlich zu. "Sagt, ihr beiden, welcher Weg führt zum nächsten Dorf?" Beide zeigten in die Rich-tung, in der ihr Dorf lag. Sie schauten sich an und lachten herzlich. Der Reiter fühlte sich ein wenig veräppelt und wiederholte seine Frage. "Nun," sagte Richard, "beide Wege führen zu einem Dorf, jener nach Hinterberg und dieser nach Zwenwalden. Beide Dörfer sind von hier in einer Stunde zu Pferde zu erreichen. Diese Bank liegt nämlich genau auf der Mitte des Weges von einem Dorf zum anderen. Jeder von uns hat in die Richtung seines Dorfes gezeigt, wir sind nämlich beide auf dem Heimweg."

"So sagt mir, welches Dorf das größere ist!" sagte der Mann auf dem Pferd. Mario räusperte sich. "Beide Dörfer sind in etwa gleich groß. Jedes Dorf hat etwa 150 Ein-wohner, ohne Frauen und Kinder. Der Reiter überlegte einige Momente lang. Dann sagte er: "Ich bin ein Bote des Königs. Der König wird in einer Woche ins Nachbar-land reiten, um mit dessen König zu sprechen. Er sucht ein Dorf, in dem er ein Nacht-quartier findet und einige Tage Rast machen kann. Da jedes eurer Dörfer geeignet zu sein scheint, will ich nicht allein entscheiden, in welchem Dorf der König Rast machen wird. Bereitet also beide euer Dorf auf die Ankunft des Königs vor." Der Bote wen-dete sein Pferd, nahm zum Abschied seinen Hut und ritt davon. Mario und Richard winkten ihm hinterher. Nach einer Weile beendeten sie die Rast und gingen zurück ins Dorf. Jeder in sein eigenes, natürlich.

Als Mario in Hinterberg ankam, berichtete er dem Bürgermeister von dem Auftrag des Boten. Der Bürgermeister rief sofort die Ältesten des Dorfes zu sich, um zu beraten, was zu tun sei. Franko, der alte Schmied, fragte: "Ich habe das also richtig verstanden: Wir wissen gar nicht, ob der König zu uns ins Dorf kommt? Dann würde ich vorschla-gen, wir machen uns nicht zu viel Aufwand, denn wenn er dann doch nach Zwenwal-den geht, war die ganze Mühe umsonst." - "Aber Franko," wandte Mirko ein, "wenn der König dann doch zu uns kommt, ist nichts vorbereitet, er wird sehr unzufrieden sein. Nein, ich würde vorschlagen, wir bereiten zum Empfang des Königs ein großes Fest vor. Wenn er dann kommt, wird er sich freuen und uns reichlich belohnen!" - "Und was ist, wenn er nicht kommt?" fragte der Bürgermeister. - "Wir müssen eben dafür sorgen, daß er zu uns kommt. Wenn ich nur wüßte, wie wir das machen sollen." - "Ich hab eine Idee!" rief Marco plötzlich. "Wir stellen einfach am Tag, wenn der König kommt, ganz viele Lichter auf, so daß er unser Dorf schon von weitem sieht. Dann wird er sicherlich zu uns kommen." - "Ich finde, das ist eine gute Idee," sagte der Bürgermeister, "laßt uns darüber abstimmen!" Sie stimmten ab und alle waren dafür. So begannen die Leute in Hinterberg, das große Fest für den König vorzubereiten.

Als Richard in Zwenwalden ankam, lief auch er sofort zum Bürgermeister und berich-tete ihm. In Zwenwalden gab es keinen Ältestenrat, deshalb schickte der Bürgermeister einige Leute von Haus zu Haus, die fragen sollte, wer bereit war, den Empfang des Königs vorzubereiten. Es kamen viele Leute zusammen, und der Bürgermeister er-klärte ihnen die Situation. Sofort begann ein wildes Gerede, Meinungen wurden aus-getauscht, Vorschläge gemacht. "He, he, nicht alle durcheinander!" rief der Bürger-meister dazwischen. "Einer nach dem anderen soll seine Fragen stellen oder Vorschlä-ge machen. Zuerst die Fragen!" Die Leute stellten viele Fragen, hier sind nur einige davon: Wann wird der König kommen? - Was ist, wenn er sich in den Wäldern verirrt im Dunkeln? - Was ist, wenn seine Pferde erschöpft sind, oder gar seine Kutsche kaputt? - Was wird er essen wol-len? Wo kann er schlafen? - Was ist, wenn sich jemand auf der Reise verletzt hat? Anschließend wurden viele Vorschläge gemacht, so daß für jede Frage eine Lösung gefunden wurde. Auch in Zwenwalden begannen nun die Vorbereitungen.

Eine Woche später, es war schon fast Nacht, kam der König an die Kreuzung mit der Bank. Tatsächlich sah er von weitem das Dorf Hinterberg in hellem Licht. Er sagte zu seinem Boten: "Das Dorf hinter dem Berg scheint doch um einiges größer zu sein als Zwenwalden, wenn um diese Zeit noch so viele Lichter brennen. Wir wollen dorthin reiten." - "Jawohl, mein König, aber das Dorf heißt Hinterberg, und es hat genau so viele Einwohner wie Zwenwalden." - "Ich weiß, wie das Dorf heißt. Ich sagte auch: Das Dorf hinter dem Berg und nicht: Das Dorf Hinterdemberg. Wir wollen trotzdem dorthin reiten." So bogen der König und seine Gefolgschaft nach links ab und ritten in Richtung Hinterberg.

An jenem Abend war aber noch jemand anders unterwegs. Es war Fabian mit seiner Räuberbande. Auch sie hatten an der Kreuzung gestanden, und Fabian hatte gesagt: "Wir wollen das Dorf Hinterberg ausrauben. Seht wieviel Licht noch brennt zu dieser späten Stunde. Die Einwohner dieses Dorfes scheinen sehr wohlhabend zu sein."

Da Fabian und seine Kumpanen noch keine Gelegenheit gehabt hatten, Pferde zu stehlen, waren sie zu Fuß unterwegs. Deshalb holte die Gefolgschaft des Königs sie bald ein. Als die Räuber hörten, daß eine Kutsche kam, verstecken sie sich in den Büschen am Wegesrand, um sie zu überfallen. Denn wer eine Kutsche hatte, der hatte auch viel Geld. Als die Kutsche an ihnen vorüber fuhr, sprangen die Räuber aus den Büschen. Die Männer des Königs waren überrascht von dem Angriff, und obwohl sie tapfer kämpften, waren sie den Räubern unterlegen. Der König sah, daß die Lage aussichtslos war, und schrie seinem Boten zu: "Reite du nach Zwenwalden und sieh, ob du Hilfe holen kannst. Ich werde nach Hinterberg reiten, und dort mein Glück versuchen." Der König mußte sich seinen Weg frei kämpfen, aber er konnte, genau wie sein Bote, entkommen. Allerdings wurde er durch einen Messerstich verletzt. Die Räuber töteten die anderen Männer des Königs und machten sich dann über die Schätze her, die der König als Geschenke für den König des Nachbarlandes in der Kutsche hatte. Dann ritten sie weiter nach Hinterberg, um auch das Dorf auszurauben.

Der Bote des Königs ritt so schnell er konnte nach Zwenwalden. Da er Angst hatte, die Räuber könnten ihn verfolgen, ritt er nicht auf der Straße, sondern auf Waldwegen, um nicht entdeckt zu werden. Aber er kannte sich nicht aus, so daß er sich schließlich im Wald verirrte. Plötzlich hörte er hinter sich einen Reiter. Hatten die Räuber ihn eingeholt? Er stieg von seinem Pferd und jagte es in den Wald, um seine Verfolger in die Irre zu führen. Dann kletterte er auf einen Baum. Der Reiter kam näher. Er schien sich gar nicht um das davoneilende Pferd zu kümmern. Direkt unter dem Baum, auf den der Bote geklettert war, hielt er an.

Es war Richard, der Mann, der auf der Bank gesessen hatte. Der Bote erkannte ihn und stieg erleichtert vom Baum herunter. Richard war einer der Reiter, die die Leute aus Zwenwalden in den Wald geschickt hatten, um den König aufzulesen, falls er sich bei der Dunkelheit verirrt haben sollte. Der Bote berichtete, was geschehen war. Richard war bestürzt. Er nahm den Boten auf sein Pferd und die beiden ritten nach Zwenwal-den. Auch der Bürgermeister war entsetzt von der Nachricht. Er schickte seine besten Reiter nach Hinterberg, um dem König wenn möglich zu helfen.

Der König war inzwischen in Hinterberg angekommen. Als er in die Stadt ritt, traf er auf den Bürgermeister. Der fragte ihn: "Was willst du denn hier? Mach schleunigst, daß du mit deinen Lumpen verschwindest!" Der König sah in der Tat wie ein Bettler aus. Die Flucht durch den Wald hatte seine königlichen Gewänder so mitgenommen, daß sie wie Lumpen an seinem Körper hingen. "Ich bin der König!" sagte er entrüstet. "Auf dem Weg hierher wurde ich mit meinem Gefolge von einer Räuberbande über-fallen. Nur mein Bote und ich konnten fliehen. Die Räuber haben mich vielleicht ver-folgt. Ihr müßt euch auf einen Angriff vorbereiten. Bewaffnet euch!" Doch der Bür-germeister glaubte ihm nicht. "Da könnte ja jeder kommen! Wir lassen uns doch von deinen Lügengeschichten nicht den Empfang des Königs vermiesen!" Und die Leute trieben den König aus ihrem Dorf.

Kurze Zeit später hörten sie eine Kutsche und mehrere Reiter kommen. Die Räuber hatten die Uniformen der königlichen Gefolgsleute angezogen und ihr Anführer Fabi-an saß in königliche Gewänder gekleidet in der Kutsche. Noch immer freute er sich, daß ihm diese List eingefallen war. Er wurde von den Einwohnern Hinterbergs könig-lich empfangen und sie feierten ein großes Fest. Fabian gefiel das alles, das Morden und Plündern konnte noch eine Weile warten. Und warum sollte er es sich nicht ein-mal königlich gut gehen lassen.

Der richtige König war zu Fuß im Wald, sein Pferd hatten die Hinterberger ihm abge-nommen. Er irrte einige Stunden durch den Wald, bis ihn die Reiter aus Zwenwalden auflasen. Sie brachten ihn in ihr Dorf und gaben ihm ein Nachtquartier. Noch in der Nacht verband ein Arzt seine Wunden.

A

m nächsten Morgen schickte der König seinen Boten ins Nachbarland, um anzukün-digen, daß sich sein Besuch um einige Tage verspäten würde. Richard schickte er als Boten in sein Schloß um seine Armee zu holen. Sie sollten die Räuber gefangen neh-men und die Schätze des Königs zurückerobern.

Fünf Tage später trafen die Soldaten des Königs in Zwenwalden ein. Der König war inzwischen wieder gesund, er war gut gepflegt worden. Zusammen mit seinen Solda-ten ritt er nach Hinterberg. In Hinterberg hatten die Räuber ein Fest nach dem anderen gefeiert. Als die Soldaten kamen, waren sie so betrunken, daß sie keine Gegenwehr leisten konnten. Als der König mit seiner Armee in das Dorf kam, erkannten ihn die Einwohner und merkten, daß sie einem Betrüger gedient hatten. Der König forderte als Wiedergutmachung die Vorräte, die von den Räubern schon stark geplündert waren, von den Hinterbergern ein. Da bereuten sie, daß sie dem falschen König gefolgt waren.

Nachdem der letzte Räuber abgeführt war ritten der König und seine Soldaten zurück nach Zwenwalden. Als Belohnung für ihre treuen Dienste schenkte er den Einwohnern von Zwenwalden die Vorräte, die er den Hinterbergern abgenommen hatte. Und weil die Geschichte so gut ausgegangen war, feierten sie alle mit dem König und seinen Soldaten ein großes Fest.

© Philipp Pulger (12/98)


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