Der Kampf gegen den Egoismus (auch als Lesung)mp3 (1035 kb)

von Philipp Pulger


Vor einigen Tagen kam ich in ein sonderbares Land. Das Land war so sonderbar, dass ich seinen Namen vergessen habe. Dabei war der Name gar nicht so sonderbar. Als ich eine gute Weile in dieses Land hineingegangen war, traf ich einen Mann, der sich an einer Wegkreuzung auszuruhen schien.

"Ruhst du dich hier aus?" fragte ich ihn. "Nein." - "Warum sitzt du dann hier?" - "Eigentlich sitze ich gar nicht hier." - "Wenn du nicht hier sitzt, was tust du denn dann? Ich sehe doch, dass du hier sitzt." - "Ich tue nichts. Und weil ich beim Nichtstun irgendeine Haltung einnehmen muss, kommt es dir so vor, als säße ich." Ich wusste nicht, was ich sagen sollte und zögerte. "Wenn es dir besser gefällt, kann ich auch stehen, während ich nichts tue", sagte der Mann schließlich und stand auf. "Wenn es dir bequemer ist, setz dich ruhig wieder hin, während du nichts tust", sagte ich. "Das ist es gerade", erwiderte der Mann etwas zornig, "wenn ich beim Nichtstun säße, um es mir bequem zu machen, wäre alles umsonst." - "Das verstehe ich nicht." - "Weißt du", begann der Mann, "unsere Vorfahren haben in diesem Land vor langer Zeit beschlossen, den Egoismus zu bekämpfen. Es war nämlich so, dass jeder das, was er tat, nur noch für sich selbst tat. Deshalb haben unsere Vorfahren beschlossen, nur noch das nötigste zu tun und sonst nichts zu tun." - "Und wie ernährt ihr euch, ich meine, ihr müsst doch zumindest Getreide anbauen, damit ihr was zu essen habt." - "Uns ernähren ist so ziemlich das einzige, was wir für uns selbst tun."

Ich brauchte eine Pause, um das Gehörte erst einmal zu verdauen. Der Mann nutzte diese Pause, um nichts zu tun. Und er tat nichts im Stehen. Nach einer Weile hatte ich meine Gedanken sortiert und über ein paar Fragen nachgedacht, die ich dem Mann stellen wollte. "Habt ihr denn durch das Nichtstun euer Ziel erreicht und den Egoismus besiegt?" fragte ich. "Man kann sagen, wir sind recht erfolgreich. Natürlich passiert es schon mal, dass jemand egoistisch handelt, aber das wird immer seltener." - "Und seid ihr mit eurem Leben ohne Egoismus zufrieden?" - "Zufriedenheit ist ein egoistisches Gefühl. Wir leben einfach. Ohne Egoismus, ohne Gefühle." - "Aber wenn ihr gar nichts mehr tut, gar nichts mehr fühlt, was hat das Leben dann für einen Sinn? Ist das Weiterleben dann nicht nur die egoistische Flucht vor der Ungewissheit des Todes?" - "Du hast recht", sagte der Mann. Er sinnierte eine Weile, tat dann noch ein wenig nichts, nahm dann ein Messer und erstach sich. Da lag er nun, tot, nachdem er seinem egoistischen Leben ein Ende bereitet hatte.

Ich verließ ihn und sein Land, das den Egoismus so erfolgreich bekämpft hatte. Als ich wieder zu Hause war, machte ich mir Vorwürfe, jetzt vielleicht in diesem sonderbaren Land eine Selbstmordwelle ausgelöst zu haben. Ein Freund, der dieses Land nach mir besuchte, konnte mich beruhigen. Er berichtete mir, dass dem Mann zwar einige nachgefolgt waren, um nicht mehr egoistisch weiterzuleben, dass ihre Tat kurze Zeit später allerdings als egoistisch verurteilt worden war. Es war für die Bewohner dieses sonderbaren Landes einfach unverzeihlich, seinem Leben ein Ende zu setzen, um so dem Nichtstun zu entfliehen und auf die ewige Ruhe nach dem Tod zu hoffen. Welch unverzeihlicher Egoismus.

Ich war sehr erleichtert, als mein Freund mir dieses berichtete. Manchmal tue ich auch nichts. Einfach so. Um etwas weniger egoistisch zu sein. Vielleicht solltest du das auch einmal probieren. Es hilft.

© Philipp Pulger


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