Eine nicht zu beschreibende Gestalt kam auf mich zu. Sie war dunkel wie die schwärzeste Nacht, doch zugleich hell wie der schönste Sommertag. Sie war gewaltig groß, doch erschien sie winzig klein. Diese Gestalt war so unglaublich, ich musste meine Augen schließen. Sie sprach mit einer mächtigen Stimme, die meine Ohren jedoch nur wie ein leichter Frühlingswind umsäuselte: "Ich bin da." Ich öffnete die Augen und sah genauso undeutlich wie zuvor. Ich stutzte, da ich niemanden erwartet hatte. Ich traute mich nicht zu fragen, doch die Worte ließen sich nicht bremsen: "Wer bist du?" Die Gestalt schien zu lachen und mich dabei fragend anzusehen. Sollte ich wissen, wer es war? Nein, so eine Gestalt hatte ich noch nie gesehen. Und trotzdem: Sie hatte etwas eigentümlich Vertrautes an sich, als ob wir uns schon seid Jahren kennen würden. "Ich bin der Tod." Eine kurze Antwort. Ich war überwältigt.
"Bist du gekommen, um mich zu holen?" fragte ich ungläubig. "Ich hole niemanden. Das Leben kommt zu mir, wenn es an der Zeit ist. Es bleibt eine Weile, bis ich es wieder gehen lasse." Ich staunte zweifelnd. "Das Leben kommt zu dir," wiederholte ich, "aber der Tod ist doch nicht freiwillig?" Die Gestalt schien wieder zu lachen. Welch eine dumme Frage, die ich gestellt hatte. "Der Tod ist notwendig." Das wollte mir nicht so ganz in den Kopf. Ich hatte doch erlebt, wie sehr die Menschen am Leben hingen, wie sehr sie um ihr Leben kämpften, auch wenn es noch so aussichtslos war. Und jetzt kommt diese Gestalt und sagt, der Tod sei notwendig.
"Das verstehe ich nicht." Das ständige Lachen, das die Gestalt immer als erste Antwort für meine Fragen parat zu haben schien, fing an mich zu ärgern. Da kommt sie zu mir und sagt, sie sei der Tod. Das Leben komme zu ihr. Und das, weil der Tod notwendig ist. Da soll einer keine Fragen haben. Und diese Gestalt? Sie lacht nur einfach. "Der Tod ist notwendig. So wie jeder Anfang ein Ende voraussetzt, so setzt das Leben den Tod voraus." "Und das ewige Leben? Hat Christus nicht den Tod besiegt?" Schon wieder dieses Lachen. "Den Tod besiegt, das ist gut. Aus menschlicher Sicht kann man das wohl tatsächlich so sagen. Wobei ich nicht behaupten kann, dass wir je miteinander gekämpft hätten. Das hätte ich nie gewagt, nie wagen können. Doch zu deiner ersten Frage: Genauso wie das Leben ewig ist, ist auch der Tod ewig. Nur fristet der ewige Tod im Gegensatz zum ewigen Leben eher ein Schattendasein."
Meine nächste Frage brauchte ich nicht stellen, doch bevor die Gestalt sie beantwortete, lachte sie wieder. "Aus menschlicher Sicht muss man den Tod wohl als eine Art Zwischenstadium sehen. Wie ich schon sagte, wenn es an der Zeit ist, lasse ich das Leben wieder gehen. Für Euch Menschen ist Christus drei Tage bei mir geblieben. Für uns beide war das ein Wimpernschlag und eine Ewigkeit. Zeit spielt keine Rolle." Da musste ich widersprechen. "Zeit ist das wichtigste Gut, das wir Menschen haben!" spielte ich mich auf. "Das ist euer Hauptproblem," wurde ich bemitleidet, "das ist euer Hauptproblem."
Die Gestalt schwieg eine Weile und schien mich zu bedauern. "Ohne das Leben hättet ihr keine Zeit. Und weil euch die Zeit so wichtig ist, und ihr merkt, dass sie für euch begrenzt ist, vergesst ihr über die Zeit euer Leben zu leben. Viele Menschen leben nur noch für die Zeit. Dabei hat Gott das Leben für die Ewigkeit geschaffen, und die hat nun wirklich nichts mit der Zeit zu tun." Jetzt war ich mit dem Lachen an der Reihe. Obwohl es bei mir eher hysterisch klang als bemitleidend. "Die Zeit hat nichts mit der Ewigkeit zu tun! Das gibt es doch nicht. Ohne ein Gefühl für die Zeit hätte niemand ein Gefühl für die Ewigkeit." Die Gestalt sah mich eindringlich an. "Ist dir nie aufgegangen, wie sehr sich Zeit und Ewigkeit widersprechen? In der Zeit muss alles einen Anfang haben und ein Ende. Die Ewigkeit hat keines von beiden." "Das Leben hat aber Anfang und Ende, wie kann es da ewig sein?" "Du willst doch wohl nicht behaupten, deine Geburt wäre der Anfang vom Leben gewesen und dein Tod werde das Ende vom Leben sein?" "Der Anfang und das Ende von meinem Leben." "Und woher kommt dein Leben? Von Gott, aus der Ewigkeit. So einfach ist das. Ab und zu könnt ihr Menschen diese Ewigkeit spüren. Doch die meiste Zeit denkt ihr an Dinge, die Anfang und Ende haben. Nur könnt ihr euch nie mit dem Ende abfinden. Irgendwann wird dir bewusst werden, dass dein Leben, das du als endlich erlebst, nur ein winziger Teil der Ewigkeit ist. Nur kannst du das nicht erfahren, weil du stets versuchst, deinen kleinen Verstand zu gebrauchen, anstatt auf deine Gefühle zu vertrauen. Aber tröste dich, du bist nicht der einzige." Mit diesen Worten wollte die Gestalt gehen.
"Du bist nicht gekommen, um mich zu holen?" fragte ich. "Nein. Und du kommst in nächster Zeit auch nicht bei mir vorbei." "Wer bist du?" fragte ich, und nach einer Weile fügte ich hinzu: "Bist du Gott?" Bevor die Gestalt verschwand, antwortete sie: "Ich bin der Tod. Gott ist das Leben."
© Philipp Pulger
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