Ein Spaziergang im Regen

von Philipp Pulger


Sonntag Nachmittag. Ich sehe aus dem Fenster, sehe in den Regen. Ich könnte einen Kaffee machen. Dafür ist es etwas früh. In einer Stunde vielleicht. Ich könnte ein Buch lesen. Ich müsste ein neues anfangen. Dazu kann ich mich heute nicht überwinden. Ich könnte fernsehen. Doch schon wieder dieselben Gesichter, dieselben Geschichten. Da könnte ich auch einfach hier sitzen und nichts tun. Ich könnte nach draußen gehen und einen Spaziergang machen. Doch draußen regnet es.

Ich sehe aus dem Fenster, sehe in den Regen. So viele "ich-könnnte", so viel, das mich abhält von dem, was ich könnte. Was ich kann? Ich greife nach der Fernbedienung. Lege sie zur Seite. Ich werfe einen Blick auf mein Bücherregal. Etwas zu nüchtern sehen mir die Buchstaben auf den Buchrücken entgegen. Ein neues Buch anfangen. Etwas Neues anfangen. Mein Blick fällt auf die Kaffeemaschine. Noch ist es zu früh. Ich könnte sie anrufen.

Ich gehe zum Telefon. Ich greife den Hörer. Ich wähle die Nummer. Sie ist nicht da. Resignation? Sie wird bald wieder zu Hause sein, dann könnte ich es nochmal probieren. Mein Blick wandert aus dem Fenster.

Ich sehe aus dem Fenster, sehe in den Regen. Mein Blick wandert. Wandert durch die Wohnung. Bleibt am Schirmständer hängen. Ich gehe zum Schrank und hole eine Jacke heraus. Ziehe sie an. Nehme den Schirm. Meinen Schlüssel. Öffne die Tür, schließe sie. Von außen. Ich gehe die Treppe hinunter. Aus der Haustür. Öffne den Schirm. Ich sehe in den Regen.

Die Bäume am Rand der Straße spiegeln sich im nassen Asphalt. Ich schaue nach rechts, schaue nach links. Wohin soll ich gehen? Ich entschließe mich zum Stadtwald zu gehen. Also rechts. Ein Auto fährt an mir vorbei. Ich atme die Luft des Regens ein. Wenn es regnet, ist die Luft irgendwie anders. Ich gehe über die letzte große Kreuzung. Gleich beginnt der Feldweg. Ich habe etwas Sorge um meine Schuhe. Vielleicht hätte ich doch festere Schuhe anziehen sollen. Jetzt ist es zu spät. So schlimm wird es schon nicht sein. Ich gehe weiter. Ein Meer von Pfützen begrüßt mich auf dem Feldweg. Vorsichtig gehe ich auf den trockenen Stellen des Weges durch die Pfützen, wie auf einem Drahtseil. Mit dem Schirm halte ich die Balance. Nicht das das nötig wäre, aber es macht mir Spaß.

Nach einem Kilometer beginnt der Wald. Ich entscheide mich für den kleinen Rundweg. Das dichte Dach der Bäume hält den Regen ab. Ich schließe den Schirm. Ein Jogger läuft an mir vorbei. Ich überhole eine alte Dame mit ihrem Hund. Dann sehe ich einige frisch gefällte Baumstämme. Ich öffne den Schirm. Etwas verspielt laufe ich über die Stämme, mit dem Schirm halte ich die Balance. Nicht das das nötig wäre, aber es macht mir Spaß.

Am Ende springe ich von den Stämmen. In eine große Pfütze. Das musste ja passieren. Meine Schuhe sind triefend nass, aber es stört mich kaum. Ich gehe weiter, versuche mich an das Lied zu erinnern, das ich gestern gehört hatte. Es fällt mir wieder ein, und ich summe es vor mich hin. Ich beginne zu pfeifen.

Nach etwa einer Stunder stehe ich wieder vor meiner Haustür. Ich schließe den Schirm und gehe nach oben. Schuhe und Strümpfe lasse ich erst einmal im Hausflur. Die Jacke hänge ich vor den Schrank zum Trocknen. Nachdem ich mir neue Strümpfe und Hausschuhe angezogen habe, fällt mein Blick auf die Kaffeemaschine. Dann auf das Telefon. Ich könnte sie zum Kaffee einladen. Ich wähle die Nummer. "Hallo?" Ich kann.

© Philipp Pulger (26.9.1999)


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